[Sci-Fi Buchtipp] Anathem von Neal Stephenson

Hi,
nachdem Neal Stephenson mit seinem Barock-Zyklus einen Ausflug in das Genre des historischen Romans unternommen hat, ist er mit seinem Buch Anathem wieder zu seinen Science-Fiction-Wurzeln zurückgekehrt. Und, meiner Meinung nach, ist ihm mit Anathem auf Anhieb wieder ein großer Wurf gelungen - Grund genug um hier mal wieder einen Buchtipp auszusprechen...

Inhalt
Im Jahr 3689 leben auf dem Planeten Arbre alle Wissenschaftler in klosterähnlichen Gemeinschaften, den sogenannten Konzenten, streng von der Außenwelt, der säkularen Welt, isoliert. Diese Trennung dient sowohl dazu die Avots, so heißen die atheistischen Wissenschaftsmönche, vor möglichen Ablenkungen zu schützen, als auch die säkulare Welt vor allzu schädlichen Einflüssen aus der wissenschatlichen Welt zu beschützen - denn mehrmals in der Geschichte gab es Zeiten, wo allzu schnelle technische Fortschritte die Gesellschaften überforderten und die menschliche Zivilisation an den Rand des Untergangs brachte. Aus diesem Grund ist den Wissenschaftsmönchen auch jede praktische Forschung untersagt - sie beschäftigen sich nur mit der Theorie und so sind die Konzente gewaltige Denkfabriken, in denen alles gedacht, aber nichts davon umgesetzt wird. Die Konzente unterteilen sich in verschiedene Abteilungen, sogenannte Mathe, die sich vorallem durch die Dauer unterscheiden, die ihre Angehörigen sich mindestens der Regeln und der Isolation des Konzents unterwerfen müssen. Es gibt die Unarier, die den Konzent bereits nach einem Jahr wieder verlassen dürfen und die hauptsächlich Kinder von wohlhabenden Familien der Außenwelt sind, die auf diese Art die bestmögliche Bildung bekommen sollen. Dann gibt es die Dezenarier, die sich mindestens für zehn Jahre verpflichten müssen und die lebenslangen, aus den Mathen der Zentenarier und der Millenarier - in den letzten beiden Fällen gibt die Zahl nicht an wie lange ein Avot mindestens dienen muss, sondern in welchen Zyklen Angehörigen dieser Mathe der Kontakt zur Außenwelt gestattet ist: Für die Zentenarier öffnen sich die Tore alle 100 Jahre für zehn Tage, für die Millenarier lediglich alle 1000 Jahre. Der Protagonist der Geschichte ist Erasmas ein junger Avot des Dezenarier Maths, der nach zehn Jahren abgeschiedenen Lebens hinter Klostermauern erstmals wieder die Außenwelt betreten darf und auf Hinweise stößt, die nicht nur seinen Konzent, sondern die ganze Welt Arbre bedrohen...

Fazit
Um es gleich vorweg zu sagen: Anathem ist keine leichte Kost - und das sage ich nicht nur weil es mit mehr als 1000 Seiten auch ein ganz schöner Wälzer ist. Der Autor befördert den Leser mitten in eine unbekannte Welt, die zugleich vertraut und völlig fremdartig wirkt. Dabei nutzt Stephenson vor allem die Sprache als Mittel und konfrontiert den Leser direkt auf den ersten Seiten nicht nur mit einer Vielzahl fremdartiger Namen, wie z. B. Orolo, Paphlagon oder Kufodhekles, sondern auch mit unzähligen unbekannten Begriffen: Avot (die Bezeichnung für die Wissenschaftsmönche), Extramuros (Außenwelter), Deolatisten (religiöse Außenwelter), Zampanos (bedeutende Außenwelter), Orth (Hochsprache der Avot), Fluckisch (Sprache der Außenwelter), Apert (die Zeit in der die Mathe für zehn Tage ihre Tore für die Außenwelt öffnen), Aut (feierliche Versammlung der Avot einer Math) und viele, viele mehr... Bei einigen Begriffen kann man die Bedeutung direkt erahnen, so ist z. B. eine Kulle die schlichte Kutte der Avot, ein Spulocorder eine Art Videokamera und ein Hierarch ein hochrangiger Avot - aber was ist ein Nicknack, eine Messale, ein Hobo oder ein Prokier? Diese Sprache erschwert einem Leser den Zugang zu der Geschichte (und hat die Übersetzer bestimmt in den Wahnsinn getrieben), zumal viele Begriffe erst hundert oder zweihundert Seiten nach ihrer ersten Erwähnung genauer erklärt werden, regen aber auch die Fantasie an und geben der Welt ein ganz besonderes Flair, dass zugleich vertraut und fremdartig ist. Aber auch inhaltlich ist Anathem keine leichte Kost, spielt das Buch doch größtenteils in einem Konzent - also einem Ort an dem kluge und überaus gelehrte Klugscheißer zusammengepfercht sind, deren einziger Zeitvertreib (neben dem Studium der Wissenschaften) hochgebildete Diskussionen und Dispute sind. Und genau diese Diskussionen über Mathematik, Astronomie, aber auch Philosophie machen einen wesentlichen Teil (und Reiz) dieses Buches aus. Dazu passt auch das Stephenson sich viel Zeit bei der Entwicklung seiner Geschichte läßt - man muß schon ein Drittel des Buches bewältigen, um überhaupt so etwas wie eine stringente Handlung zu erkennen - dann jedoch erkennt man nicht nur, dass schon einige der allerersten Dialoge Teil dieser Handlung waren, sondern findet sich unvermittelt in einem klassischen Science-Fiction-Scenario, dem Erstkontakt-Szenario, wieder und das Buch ist auf einmal nicht mehr nur faszinierend, sondern plötzlich auch noch spannend... Mein Fazit: Dieses Buch ist eine intelligente und interessante Mischung aus wissenschaftlichen Fakten, philosophischen Überlegungen und interessanten Spekulationen, verwoben zu einer mal lustigen, mal spannenden, aber immer interessanten Geschichte und angesiedelt in einer Welt die, meiner Meinung nach, zu den lebendigsten und durchdachtesten Sci-Fi-Welten seit sehr langer Zeit gehört...

Über den Autor:
Neal Stepehnson dürfte den meisten HaBolern kein Unbekannter sein, mit seinen Romanen Snow Crash (indem er, meines Wissens nach, den Begriff Avatar für eine Internetpräsenz geprägt hat) und Diamond Age hat er bereits großartige Science-Fiction geschrieben. Mit dem Cryptonomicon wurde er nicht nur weltweit berühmt, sondern hat sich auch endgültig einen Platz im Universum der Nerds & Geeks erobert - nicht zuletzt aufgrund des von Bruce Schneier (den sollte jeder HaBoler kennen) höchstpersönlich entwickelten Solitaire-Verschlüsselungsalgorithmus. Weniger bekannt ist das Stephenson auch ein Sachbuch "In the Beginning... was the Command Line" (deutscher Titel: Die Diktatur des schönen Scheins - wie grafische Benutzeroberflächen den Computernutzer entmündigen) geschrieben hat - ich denke der Titel (vorallem der Untertitel der deutschen Übersetzung) sagt viel über den Mann aus... ;)

Anathem
Neal Stephenson
Manhattan Verlag
ISBN 978-3-442-54660-2

Website des Autors:
http://www.nealstephenson.com/
 
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