[TdW 138] Die Putin-Frage: Wohin steuert Russland?

Nach einer Woche Pause blickt das TdW diesmal nach Russland, das direkt oder indirekt die Schlagzeilen seit Wochen dominiert. Spätestens seit den Maidan-Protesten und deren Folgen, stehen sich der Westen und Russland so feindselig gegenüber wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr - auch die Rhetorik erinnert mehr und mehr an dieses Kapitel der Menschheitsgeschichte. Im Westen wird gerne Putin allein für diese Entwicklung verantwortlich gemacht, Putin und seine Regierung werden geradezu dämonisiert und als Kriegstreiber und Agressoren dargestellt.
Im Gegenzug scheint man im Russland dem Westen, vor allem den bösen Amerikanern, die Schuld an allem zu geben. Sicher ist nur das Russland und der Westen sich in zunehmender Häufigkeit bei Konflikten wieder auf unterschiedlichen Seiten gegenüberstehen. Man denke nur an den schier endlosen Bürgerkrieg in Syrien, wo Russland Assad unterstützt und der Westen die Aufständischen.
Die dramatische Zuspitzung des Konflikts zwischen dem Westen und Russland erlebten (und erleben) wir in der Ukraine: Russland hintertrieb die Unterzeichnung des Assozierungsabkommens mit Europa (übrigens mit in der Politik legitimen Mitteln wie dem Versprechen von wirtschaftlichen Zugeständnissen und der Androhung von Sanktionen - also mit Zuckerbrot & Peitsche), der Westen reagierte mit UNterstützuung der oppositionellen Proteste und die Gewaltsprirale führte erst zum Sturz der ukrainischen Regierung, zur Annektion der Krim durch Russland und letztendlich zu einem blutigen Bürgerkrieg. Der Krieg ist damit nach Europa zurückgekehrt und mit ihm Angst, Misstrauen und Propaganda - wenn man dem Westen glauben will, ist dafür allein Russlands Machtstreben verantwortlich.
Doch wie sieht es in Wirklichkeit aus? Träumt Putin wirklich davon Macht und Einfluss der gescheiterten Sowjetunion zu restaurieren? Sicher ist das Russland in den letzten 30 Jahren viele Krisen und Umbrüche erfahren und durchleben musste. Zuerst der Zusammenbruch der Sowjetunion, Staatsbankrott und die Jelzin-Ära in der die heutigen Oligarchen das Land scheinbar nach Lust und Laune ausgeplündert haben. Unter Putin erlebte Russland eine wirtschaftliche Renaissance, vor allem weil er gegen einige Oligarchen vorging und Gewinne aus dem üppigen russischen Rohstoffreichtum wieder unter staatliche Kontrolle brachte. Innenpolitisch brachte ihm aber vor allem sein hartes Vorgehen im Rahmen des zweiten Tschetschenienkriegs Lorbeeren ein: Ende der Neunziger erschütterten eine Reihe von Bombenanschläge Moskau, für die man tschetschinische Rebellen verantworlich machte. Putin, der Jelzin nach dessen Rücktritt 1999 als Präsident ablöste, koordinierte damals die russische Reaktion und ließ die Armee in Tschetschenien einmarschieren und letztendlich die Hauptstadt Grosny erorbern. Für viele Russen, die den Verlust des Supermacht-Status und die chaotischen Jahre der Jelzin-Ära erlebt hatten, war das nach langer Durststrecke endlich wieder ein außenpolitischer Höhepunkt. Putin, der zunächst nur Interimspräsident gewesen war, gewann dadurch genug Sympathien im Volk um auch ganz offiziell die Präsidentwahl im Jahr 2000 für sich zu entscheiden. Vermutlich geht sein Image und seine Selbstinszenierung als starker Mann, um nicht zu sagen als Macho, auf diese Zeit zurück. Auf jeden Fall hat er Russland seit dieser Zeit jedenfalls mehr oder weniger direkt regiert.
Unter Putin erstarkte die russische Wirtschaft, auch das Militär erlebte eine regelrechte Auferstehung und aussenpolitisch wurde Russland wieder verstärkt wahrgenommen - das alles war verständlicherweise Balsam für die geschundene Seele vieler Russen. Aber wie sooft hat diese Entwicklung auch ihre Schattenseiten: Die Regierung wurde immer autoritärer und Regierungskritiker gerieten zunehmend unter Druck. Dazu wurden nationalistische (um nicht zu sagen rechtsextreme) Kräfte gezielt gefördert, während Kritiker gerne als Nestbeschmutzer oder vom Ausland bezahlte Provokateure dargestellt wurden. Die Folge war ein zunehmend aggressives Klima, dem letztendlich viele Oppositionelle und kritische Journalisten zum Opfer gefallen sind. Gerade erst jetzt wurde ja der prominente Oppositionelle Boris Nemzow, ein scharfer Kremlkritiker und entschiedener Gegner der aggressiven Ukraine-Politik Putins, auf offener Straße erschossen. Doch er ist nur einer in einer langen Reihe von politisch motivierten Attentaten, die Zeit hat mal ein paar Beispiele die bis ins Jahr 2003 zurückreichen aufgelistet: Oppositionelle in Russland: Entführt, erschossen, vergiftet | ZEIT ONLINE

Putin kann sich eigentlich gerade in dem Wissen um seine beispiellose Beliebtheit im Volke sonnen - Umfragen sahen noch im Dezember 80% Zustimmung für Putin und seine Ukraine-Politik im russischen Volk. Einen politischen Mord hat er also vermutlich weder nötig, noch beauftragt - aber es stellt sich die Frage ob das chauvinistische Klima, in dem jede Form von Kritik als Verrat gewertet wird und das eine Folge seiner Politik ist, nicht letztendlich die Ursache für die beispiellos hohe Sterblichkeitsrate von Regierungskritikern ist.
Im Westen wirft man Putin vor er sei dabei Russland die ehemaligen Sowjetrepubliken erneut einzuverleiben und NATO General Breedlove unterstellt Putin bereits Pläne mit der Republik Moldau zu haben. In den baltischen Staaten wird man zunehmend nervös und verlangt nach NATO Präsenz und Aufrüstung. Auch in Deutschland hat Finanzminister Schäuble mit Blick auf die globalen Krisenherde gerade erst angekündigt den Wehretat aufzustocken.
Erstmals seit Ende des Kalten Krieges blickt man in Europa wieder mit Sorge nach Osten und auch längst vergessen geglaubtes Säbelrasseln und Kriegsrhetorik sind zurückgekehrt. Der Westen gibt daran allein Russland die Schuld, Russland gibt dem Westen die Schuld...:rolleyes:
Doch so oder so: Russland spielt eine Schlüsselrolle für Europa - als Nachbar, als wirtschaftlicher Partner & Rohstofflieferant und als militärische Großmacht. Das TdW stellt daher heute die Putin-Frage: Strebt Putin wirklich nach einem neuen, russischen Großreich? Oder schützt er lediglich legitime russische Interessen vor dem Machthunger des Westens? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? Wohin steuert Russland?

Quellen:
Trauermarsch für Boris Nemzow in gedrückter Stimmung
Oppositionelle in Russland: Entführt, erschossen, vergiftet | ZEIT ONLINE
Wladimir Putin: Nato warnt vor russischer Aggression in Moldau | ZEIT ONLINE
Bundeswehr: Schäuble für höheren Wehretat - SPIEGEL ONLINE
https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Wladimirowitsch_Putin
 
Aber wie sooft hat diese Entwicklung auch ihre Schattenseiten: Die Regierung wurde immer autoritärer und Regierungskritiker gerieten zunehmend unter Druck.

Wie kommt die westliche Welt bloß immer darauf, dass das eine Schattenseite ist? Für eine Menge Russen ist das keine Schattenseite, denn ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist auf ein totalitäres System "geeicht" und "muss man halt die Schnauze halten" ist ein gängiges Prinzip. Würde Putins Stil eine "Schattenseite" haben - hätte er dann diesen Rückhalt in der Bevölkerung? Es ist ein Irrtum, dass die ehemaligen Sowjets nach Demokratie lechzen (Ich empfehle Lawrence lessigs Bericht über die "Demokratierungsprojekte" nach der UDSSR).

Aus der Sicht sehr vieler Russen, lauft alles Wunderbar! Das sollte man sich mal etwas häufiger vor Augen halten...
 
@chromatin
Ich würde nicht mal sagen, dass dies überhaupt eine Eigenschaft des russischen Volkes
ist oder etwas mit Geschichte zu tun hat.
Der Mensch allgemein lässt sich gerne führen, dies ist im "Westen" nicht anders.
Selbst wenn es eine noch zu bauende KI ist, vertrauen wir gerne einer Person,
Organisation, System oder Gruppe die über ein vermeintlich größeres Wissen über
Zusammenhänge haben, welche wir uns erarbeiten müssten.
Die Geschichte zeigt auch hier, dass Menschen mit autoritärem Führungsstil durchaus
gerne gewählt werden.

Gruss
 
Chromatin hat gesagt.:
Wie kommt die westliche Welt bloß immer darauf, dass das eine Schattenseite ist? Für eine Menge Russen ist das keine Schattenseite, denn ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist auf ein totalitäres System "geeicht" und "muss man halt die Schnauze halten" ist ein gängiges Prinzip. Würde Putins Stil eine "Schattenseite" haben - hätte er dann diesen Rückhalt in der Bevölkerung?
Da hast Du aber mehr Vertrauen in die Affinität des russischen Volkes zu einer autoritären Regierung als Putin selbst...:D
Putins Regierung würde keine harten Maßnahmen gegen freie Presse, Regierungskritiker & Opposition ergreifen, wenn sie sich des Rückhalts in Bevölkerung sicher wäre. Und ob der Rückhalt in der Bevölkerung so groß ist, wie Meinungsumfragen andeuten kann auch niemand mit Gewissheit sagen - wie ich letztens in einem Interview mit einem im Exil lebenden russischen Kreml-Kritikers gelesen habe: Zu Meinungsumfragen gehört Meinungsfreiheit. Ich finde es ziemlich interessant das Meinungsumfragen im Westen ständig angezweifelt werden ("Traue keiner Statistik die du nicht selbst gefäscht hast"), Umfragen die eine extrem hohe Zustimmung des Volkes für Putins eigentlich kontroverse Ukraine-Politik offenbaren, aber scheinbar nicht hinterfragt werden.
Ist vermutlich das gleiche Phänomen das die deutsche Presse als "Lügenpresse", die russischen Staatsmedien jedoch als objektiv und frei erscheinen lässt...:rolleyes:

end4win hat gesagt.:
Ich würde nicht mal sagen, dass dies überhaupt eine Eigenschaft des russischen Volkes
ist oder etwas mit Geschichte zu tun hat.
[...]
Die Geschichte zeigt auch hier, dass Menschen mit autoritärem Führungsstil durchaus
gerne gewählt werden.
Im Grunde hast Du natürlich recht, wenn Du sagst das die Menschen sich prinzipiell gut mit einer autoritären Herrschaftsform arrangieren können (das liegt aufgrund unserer evolutionsgeschichtlichen Entwicklung und Sozialisation vermutlich geradezu in unserer Natur), aber diese Unterordnung ist eben nicht absolut. Kennst Du die Maslowsche Bedürfnispyramide?
Wenn eine Regierung effektiv ist, also die Grundbedürfnisse des Volkes (Nahrung, Sicherheit & Ordnung, etc.) befriedigen kann, kommen irgendwann die Punkte Individualbedürfnisse & Selbstverwirklichung. Das ist der Grund warum autoritäre Regierungen hart gegen Kritiker & Opposition vorgehen, denn wenn die Bürger ersteinmal satt und relativ zufrieden sind, werden sie plötzlich empfänglich für Konzepte wie Meinungsfreiheit, Mitbestimmung und Selbstverwirklichung.
In Krisen und Zeiten der Not kommen autoritäre Regime besonders leicht an die Macht (meist sind sie auch effektiv bei der Bekämpfung der Krisen), aber irgendwann kommt der Punkt wo sie sich nur noch durch Repression an der Macht halten können.
 
Zuletzt bearbeitet:
Im Grunde hast Du natürlich recht, wenn Du sagst das die Menschen sich prinzipiell gut mit einer autoritären Herrschaftsform arrangieren können (das liegt aufgrund unserer evolutionsgeschichtlichen Entwicklung und Sozialisation vermutlich geradezu in unserer Natur), aber diese Unterordnung ist eben nicht absolut. Kennst Du die Maslowsche Bedürfnispyramide?
Wenn eine Regierung effektiv ist, also die Grundbedürfnisse des Volkes (Nahrung, Sicherheit & Ordnung, etc.) befriedigen kann, kommen irgendwann die Punkte Individualbedürfnisse & Selbstverwirklichung. Das ist der Grund warum autoritäre Regierungen hart gegen Kritiker & Opposition vorgehen, denn wenn die Bürger ersteinmal satt und relativ zufrieden sind, werden sie plötzlich empfänglich für Konzepte wie Meinungsfreiheit, Mitbestimmung und Selbstverwirklichung.
In Krisen und Zeiten der Not kommen autoritäre Regime besonders leicht an die Macht (meist sind sie auch effektiv bei der Bekämpfung der Krisen), aber irgendwann kommt der Punkt wo sie sich nur noch durch Repression an der Macht halten können.

:D
https://www.hackerboard.de/politik/49551-tdw-136-quo-vadis-bringt-die-zukunft.html
Natürlich hast du Recht der Mensch ist nie zufrieden.
Genau deshalb zweifle ich ja so daran, dass deine KI daran nicht verzweifelen wird.
:D

Gruss
 
Da hast Du aber mehr Vertrauen in die Affinität des russischen Volkes zu einer autoritären Regierung als Putin selbst...
Putins Regierung würde keine harten Maßnahmen gegen freie Presse, Regierungskritiker & Opposition ergreifen, wenn sie sich des Rückhalts in Bevölkerung sicher wäre.

Das sind gängige Konzepte beim Machterhalt. Und dieses Konzept funktioniert dort nun mal, genau wie in vielen anderen Staaten der Welt auch.

Warum sollte sich eine gesellschaftliche Elite (oder Kaste, oder Regierung, etc.) die "Mühe" machen mit Absicht ein Vakuum zu öffnen, wo so etwas wie "freie Meinungsäußerung" hineinflieszen kann, die für die herrschende Gruppe nur Nachteile bietet? Für einen nicht unerheblichen Teil der Menschen dort, ist unsere Weltsicht nichts weiter als gesülze...

wie ich letztens in einem Interview mit einem im Exil lebenden russischen Kreml-Kritikers gelesen habe: Zu Meinungsumfragen gehört Meinungsfreiheit.
Und Millionen Menschen dort würden sagen, dass man davon nicht satt - und das Haus nicht warm wird. Moskau != Russland und Berlin != Deutschland ;)


Kennst Du die Maslowsche Bedürfnispyramide?
Wenn eine Regierung effektiv ist, also die Grundbedürfnisse des Volkes (Nahrung, Sicherheit & Ordnung, etc.) befriedigen kann, kommen irgendwann die Punkte Individualbedürfnisse & Selbstverwirklichung. Das ist der Grund warum autoritäre Regierungen hart gegen Kritiker & Opposition vorgehen, denn wenn die Bürger ersteinmal satt und relativ zufrieden sind, werden sie plötzlich empfänglich für Konzepte wie Meinungsfreiheit, Mitbestimmung und Selbstverwirklichung.
Solche Verallgemeinerungen hat man den Leuten in den 50ern angedreht.
Heutzutage fällt da (Gott sei Dank) kaum noch einer drauf rein
 
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