Verstand hat in politischen Entscheidungen nichts zu suchen? Also das sehe ich völlig anders! Meiner Meinung nach sollte Politik auf wohl abgewogenen, rationalen Entscheidungen beruhen - also auf dem Verstand.
Du hast nicht unrecht, wenn Du sagst das der Verstand manipuliert werden kann - aber noch viel einfacher lassen sich Gefühle manipulieren. Wer bei Entscheidungen nicht primär auf den Verstand und rationale Erwägungen vertraut, der lässt sich von Gefühlen leiten. Schon der von Dir beschworene Respekt vor der Freiheit, übrigens eine wenig substanzielle Aussage, ist ein Gefühl. Ich sehe nicht was ein vages Gefühl wie Respekt vor der Freiheit zu der Entscheidungsfindung in politischen Alltagsentscheidungen beizutragen hat. Auch die Kenntnis der Verfassung würde bei Volksbefragungen keine nennenswerte Rolle spielen - bei denen geht es ja nur um Richtungsvorgaben, die eigentliche Umsetzung und Detailarbeit wird später von den 'Profis' erledigt.
Ich hatte den "gesunden Menschenverstand" ja Absichtlich in "" gesetzt. Und das bezog sich eingangs ja ganz direkt auf Volksentscheidungen - In der Hitze aktueller Meldungen, würde ich eben _nicht_ auf den gesunden Menschenverstand einer Masse vertrauen wollen.
Der "Respekt vor der Freiheit" ist weitaus mehr als nur ein Gefühl. Freiheit und die Wahrung der Freiheit (hier als Respekt) ist fundamentaler Bestandteil einer Demokratie und Volkswirtschaft, der weit über das "ich kann machen was ich will" Gefühl hinausgeht. Freiheit bedeutet auch Entscheidungsfreiraum und ein Rahmen (Gesetz) der diese Entscheidungsfreiräume verteidigt. Auch die Unverletztlichkeit der Menschenwürde ist einer dieser Entscheidungsfreiräume, die in unserem Gesetztesrahmen verankert sind und verteidigt werden wollen.
Ich bezweifel, dass sich jeder Bürger dessen bewusst wird, sollte man das Verfahren eines Vergewaltigers oder Kinderschänders an einen Volksentscheid knüpfen, in dem sich dann dort der "gesunde Menschenverstand" ausdrückt.
Denke ich den Freiheitsbegriff richtig - dann knüpft sich daran ein komplexes Gebilde, ein Rahmenvertrag, der in jeder Gesellschaft existiert, mehr oder weniger grosszügig. Man fand zB den Freiheitsbegriff in Vorchristlichen Texten (Versallen Verträge) und bei Indianerstämmen, die sich gegenseitig mit Verträgen einen "Freiheitsrahmen" zugesichert hatten.
Die "Wahrung der Freiheit" ist dann ganz explizit keine Gefühlsfrage, wenn ich subjektiv (gefühlt) in einen Nachteil gerate: Beschädigung meines Eigentums, die Mietnomaden die meine Eigentumswohnung ruinieren oder ein Gewaltverbrechen an einem mir nahestehenden Menschen.
Tatsächlich? Nun, das ist eine sehr subjektive Beobachtung und eine recht gewagte Behauptung. Wenn ich die Menschen in meinem Umfeld - also Verwandte, Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen - betrachte, muss ich sagen das der überwiegende Teil überraschend gut informiert ist und über eine solide Bildung verfügt. Aber natürlich ist auch das eine rein subjektive Betrachtung. Die Gründe für unsere völlig unterschiedlichen Bewertungen können ziemlich vielfältig sein - vielleicht bewegen wir uns in unterschiedlichen Milieus, vielleicht legst Du die Messlatte für eine adäquate politische Bildung höher als ich oder wir beurteilen die Dinge einfach grundsätzlich anders und das Glas, dass für Dich halb leer ist, ist für mich halb voll...
Das wird sicherlich so sein und ich lege die Messlatte tatsächlich sehr hoch an. Diskutiere ich zb Umweltprogramme, ist es eine Riesenarbeit überhaupt die Verhältnisse zu klären um überhaupt eine Diskussionsgrundlage zu haben.
Wir haben als "besser informierte" dann auch die Aufgabe und Pflicht, bestimme Umstände freizulegen (zb den Leuten klarmachen das der WWF mit Umweltschutz mal gar nichts zu tun hat). Beim Thema alternative Energieen hat man einen Riesenberg von Informationen zu bewältigen um überhaupt erstmal eine Aussage zu treffen. Und da ist die Lektüre der Systempresse _nicht_ ausreichend.
Vor einem guten halben Jahr gab es in einer Spiegelausgabe zB ein Interview mit dem iranien Aussenminister zum Thema Atompolitik. Das war zum Zeitpunkt als der Bericht der IAEA zum Iran veröffentlicht wurde. Das Interview macht ganz deutlich, dass der Interviewer den Bericht der IAEA _nicht_ gelesen hatte und der Text von den Vorwürfen der Systempresse gefärbt war denn - und deutlicher gehts ja kaum - um sich an der Diskussion über Irans Atompolitik zu beteiligen, MUSS man diesen Bericht gelesen haben.
Ich frage mich, in wieviel Schulklassen der Bericht der IAEA gelesen und analysiert wurde - als Teil politischer Bildung.
Dann regt sich eine Piratentussie über die Kreditbedingungen von Herrn Wulff auf - während JEDER solche Konditionen bekommt, wenn man die Sicherheiten hat, die Herr Wulff vorzuweisen hatte. Das ganze Land war darüber empört und der "gesunde Menschenverstand" war nicht in der Lage mal den eigenen Banker zu fragen... Die Liste ist lang.
Man kann sich gewiss nicht um alles kümmern und alles ergründen, keine Frage. Aber wir sollten zumindest die Wertigkeit und Messlatte politischer Bildung den Tatsachen anpassen und Werkzeuge entwickeln wie man - besonders die Kids - recherchiert und arbeitet.