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Wie aus Kindern Killer werden
Columbine - Erfurt - und jetzt Coburg: Wer glaubt, er könne leicht jemanden umbringen, täuscht sich. Töten will gelernt sein: Dave Grossman sagt, warum manche kindlichen Amokschützen so verteufelt gut treffen
von Peter Haffner
Es mag Leute geben, die es als Mangel empfinden, dass Dave Grossman noch nie jemanden getötet hat. Diejenigen, die schon getötet haben, gehören nicht dazu. Dave, finden sie, weiß besser über die Sache Bescheid als sie selbst. Über den Stress, wenn man sich dem Gegner Auge in Auge gegenübersieht. Über die Gefühle des Triumphs und der Reue hinterher. Und über die Notwendigkeit, den Kampf weiterzuführen in dieser Welt voller Verrückter, Gewalttäter und Killer, die immer schlimmer wird.
Die gut 100 Polizisten und Sheriffs aus dem Staat Washington, die sich im Konferenzsaal einer Luxuslodge bei Vancouver versammelt haben, wissen, wovon Grossman redet. Erst vor kurzem hatten zwei Heckenschützen den halben Staat lahm gelegt. Millionen wagten nicht mehr, einzukaufen oder zu tanken, aus Furcht, Opfer der Sniper zu werden, die willkürlich Passanten abknallten und erst nach dreiwöchiger Jagd verhaftet werden konnten, mit zehn Toten und drei schwer Verletzten auf dem Gewissen. Um solche Typen außer Gefecht zu setzen, braucht es, was Grossman "the bulletproof mind" nennt - einen kugelsicheren Verstand. Wie man dazu kommt, lehrt er an diesem Sonntag die Gesetzeshüter. Siebeneinhalb Stunden lang, in freier Rede, ohne sich auch nur einmal zu versprechen. Und niemand schaut auf die Uhr.
Kein Wunder. Grossman hat einen Terminkalender wie ein Opernstar. 300 Tage im Jahr ist er unterwegs, unterrichtet Polizisten und Soldaten, Lehrer und Eltern, Schulpsychologen und Sanitätsdienste über das Thema, dem er sein Leben verschrieben hat. Breitbeinig, in schwarzen Cowboystiefeln, Jeans und Hemd steht er vorm Publikum; ein schlaksiger Mittvierziger, dem man den Elitesoldaten ansieht, der er war. Federnd der Schritt, die Handbewegungen, mit denen er seinen Vortrag begleitet, so präzise, als lade er eine Waffe.
Düster ist die Szenerie, die sein rhetorisches Feuerwerk erleuchtet. Seit den fünfziger Jahren haben sich Gewaltverbrechen in den USA verfünffacht. Europas Zahlen sind nicht viel besser. Die konstanten Mörderraten täuschen. Stünden wir auf dem Stand der Medizin der Siebziger, wären sie drei bis vier Mal so hoch - maßgebend sind die Fälle schwerer Körperverletzung. Die Zeiten, in denen ein Cop jahrelang auf Streife war, ohne je die Waffe ziehen zu müssen, sind vorbei. Viele riskieren täglich ihr Leben. "Ihr seid die Schäferhunde", sagt Grossman, "Nacht für Nacht hockt ihr da draußen, bewacht die Herde, pisst an den Baum. Und kämpft mit dem Wolf, wenn er kommt."
Er ist ein netter Kerl, aufmerksam im Gespräch, doch stets auf dem Sprung, als gehorche er einem imaginären Tagesbefehl. Seit er sich erinnern könne, sagt er, auf seinem Hamburger kauend, habe er Soldat werden wollen. Warum, weiß er eigentlich nicht. Als er es wurde, ging eben der Vietnamkrieg zu Ende, und er startete eine beeindruckende Karriere mit zahlreichen Auszeichnungen, die ihn von der arktischen Tundra über die Dschungel Zentralamerikas bis ins Nato-Hauptquartier nach Brüssel führte, ohne dass er je einen Feind zu Gesicht bekommen hätte.
Er wäre gerne in den Krieg gezogen. Er wollte wissen, wie das ist, der Krieg, so wie er als Junge hatte wissen wollen, was es mit dem Sex auf sich hat. Er durchstöberte die Militärbibliotheken und fand keine Antwort auf seine Fragen. Er fragte Vietnamveteranen, doch die schwiegen. So kam er zu seinem Thema. Er wollte den "Kinsey-Report" des Tötens schreiben, so detailliert über diese Tätigkeit forschen wie weiland Masters und Johnson über das Liebesleben ihrer Landsleute. 1995 war es so weit: "On Killing. The Psychological Costs of Learning to Kill in War and Society" erschien.
Vielleicht ist es übertrieben, wenn sein Autor sich als Begründer einer neuen Wissenschaft sieht, die er, analog zur Sexologie, "killology" nennt. Doch das Buch gilt als Standardwerk, es ist eine faszinierende Lektüre. Aller Schrecknisse zum Trotz auch eine tröstliche. Denn der Mensch, so das Fazit, ist nicht zum Töten von seinesgleichen geboren.
Von Natur aus sind Soldaten Kriegsdienstverweigerer. Wo es nur geht, drücken sie sich vor dem Feind. Noch im Zweiten Weltkrieg feuerten nur 15 bis 20 Prozent der Männer an der Front ihre Waffe auf den Gegner ab. Der große Rest tat alles, dies zu vermeiden - nicht aus Feigheit, sondern um nicht töten zu müssen. Viele gingen dafür Risiken ein, die beträchtlich höher waren, als wenn sie ihre Pflicht erfüllt hätten. Sie holten Munition, bargen Kameraden aus dem Feuer oder stellten sich tot, bloß um nicht schießen zu müssen. Dass trotzdem so viele auf den Schlachtfeldern blieben, dafür sorgte die Artillerie.
Wer einem weismachen will, Töten sei eine einfache Sache, predigt Grossman, verkennt die Realität. Was Rambo, James Bond oder Luke Skywalker scheinbar so leicht von der Hand geht, will nicht nur gelernt, es will gedrillt sein. Es gibt einen mächtigen inneren Widerstand gegen das Töten der eigenen Spezies. Niemand weiß das besser als die Militärs, deren Sorge es ist, wie er überwunden werden kann.
Im Vietnamkrieg hatten sie ihr Ziel erreicht. 95 Prozent der GIs feuerten ihre Waffe auf den Feind ab - das Ergebnis einer Konditionierung, die das Gesicht der Schlacht verändert hat. Wie sehr, konnte man im Krieg um die Falklands sehen. Von den Briten, gedrillt nach solchen Techniken, feuerten 90 Prozent, von den Argentiniern, noch nach alter Schule trainiert, nur 10 bis 15. Mit Konditionierung kann man jeden dazu bringen zu töten. Und das, meint Dave Grossman, hat fatale Nebenwirkungen. Derzeit setze die Unterhaltungsindustrie alles daran, Kinder so zu drillen wie das Militär die Rekruten.
Nicht zuletzt deshalb hat Dave nach 23 Jahren seine Militärlaufbahn im Rang eines Oberstleutnants aufgegeben und ist zum "Krieger für den Frieden" geworden: "Wir müssen endlich aufhören, unsere Kinder zu Killern abzurichten." Als Timothy McVeigh vor Gericht stand, suchten seine Anwälte Hilfe bei Grossman. McVeigh war ein Golfkriegsveteran, und die Verteidigung wollte nachweisen, dass ihn die Armee zur Kampfmaschine gemacht und dazu gebracht hatte, das Regierungsgebäude in Oklahoma in die Luft zu sprengen. Der Terrorakt kostete 168 Todesopfer und Hunderte von Verletzten. Grossman lehnte ab. Soldaten, sagte er, sind überlegene Mitglieder der Gesellschaft. Sie schießen, wenn es ihnen befohlen ist. Wenn nicht, schießen sie nicht. Noch heute hat Grossman Albträume von seinem Drill Sergeant, der ihnen in Fort Ord Disziplin einbläute. Der ihnen sagte, dass sie zu tun hätten, was immer er befehle, und dass sie, falls er sie zu scheißen heiße, nur fragen dürften: in welcher Farbe?
Als ein halbes Jahr später die Vertreter der Anklage zu ihm kamen, schrieb Grossman für sie ein Gutachten. Leute wie McVeigh sind Psychopathen, sagte er, nicht nur eine Bedrohung für die Gesellschaft, sondern auch für die Armee, da sie sich nicht unterordnen können und mit ihrer Unberechenbarkeit das Leben ihrer Kameraden aufs Spiel setzen.
Im Zweiten Weltkrieg haben die Militärs gelernt, wie wenig das herkömmliche Schießtraining taugt, aus einem friedliebenden Bürger einen kampfeslustigen Soldaten zu machen. Wer auf Scheiben zielt, übt sich in der Schießkunst, aber nicht im Töten. Silhouetten von Menschen und Pop-up-Ziele, die umfallen, wenn man sie trifft, machten den Anfang, um diese Hemmung abzubauen. Heute sind interaktive Kampfsimulatoren in Gebrauch, die wie Flugsimulatoren für Piloten ein Reiz-Reaktion-Schema drillen, bis es so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass es im Ernstfall automatisch abläuft.
Sowohl der MACS (Multipurpose Arcade Combat Simulator) der US-Armee wie auch der FATS-Trainer (Fire Arms Training Simulator) der Polizei haben ihre Wurzeln in der Unterhaltungsindustrie. Der Polizeitrainer ist dem Videospiel "Time Crisis" nachgebaut, der Militärtrainer eine Modifikation von "Duck Hunt" von Super Nintendo - nur sind die Enten durch militärische Ziele ersetzt und die Jagdflinte durch eine MP. Sie lässt selbst den Rückstoß spüren. "Es sind ausgezeichnete Übungsgeräte für Soldaten und Polizisten", sagt Grossman. "Das Problem ist, dass wir Kinder damit spielen lassen, denen kein Drill Sergeant sagt, was sie tun und was sie nicht tun dürfen."
In seiner Heimatstadt Jonesboro (Arkansas) eröffneten am 24. März 1998 zwei Jungen, 11 und 13, das Feuer auf ihre Mitschüler. Vier Mädchen und ein Lehrer waren tot, zehn Schüler schwer verletzt. Grossman sieht die Lehrerin noch vor sich, Tränen in den Augen, die ihm sagte: Sie habe ihrer Klasse erklärt, was die Schüsse nebenan bedeuteten. Und da hätten die Schüler gelacht. Sie konnte nicht fassen, was nach späteren Schulmassakern weithin entsetzte: dass viele Kinder das "cool" fanden und in den Tätern nachahmenswerte Helden sahen.
Noch etwas fiel auf. Die beiden Täter, von denen nur der eine ein Mal eine Schusswaffe in der Hand gehabt hatte, feuerten aus fast 100 Meter Entfernung und trafen mit 27 Schuss 15 Leute. Militärexperten staunten über die Schießfertigkeit der Kinder - und darüber, dass sie ihre Opfer nach allen Regeln der Kunst in einer definierten "Killzone" ins Visier genommen hatten.
Der 14-jährige Michael Carneal, der in Paducah (Kentucky) das Gewehr eines Nachbarn stahl, in die Schule brachte und auf Schüler schoss, beim Morgengebet, hatte vorher noch nie eine Feuerwaffe betätigt. Er schoss acht Mal, traf acht Mal, davon fünf Mal in den Kopf und drei Mal in die Brust. Das FBI sagte, ein durchschnittlicher Beamter treffe unter gleichen Bedingungen einmal bei fünf Schuss. Die Erklärung für Michaels Rekord war: Er hatte, wie die Kinder von Jonesboro, zuvor schon Tausende erschossen. Hatte Hunderte Stunden in Videoarkaden verbracht, viel mehr Zeit fürs Training aufgewendet, als ein Polizist es je könnte. Michael Carneal bewegte sich nicht von der Stelle, während er in einem genau definierten Bereich feuerte: dem Rechteck des Bildschirms, den er vor dem geistigen Auge hatte. Und wie im Videospiel schoss er pro Ziel nur ein Mal - möglichst auf den Kopf, weil das Bonuspunkte gibt.
Dylan Klebold und Eric Harris, die das Schulmassaker an der Columbine High School in Littleton (Colorado) veranstalteten, das 15 Tote forderte, setzten einen neuen Rekord. Harris hatte seine Version von "Doom" so weit umprogrammiert, dass es der Gegend glich, in der er lebte, inklusive der Häuser von Nachbarn, die er hasste. Während die beiden von Klassenzimmer zu Klassenzimmer gingen und umlegten, wer sich in ihrer Schusslinie befand, lachten sie. Lange genug hatten die "Trenchcoat-Mafiosi", 17 und 18 Jahre alt, herumposaunt, dass sie endlich einmal richtig zur Sache gehen möchten.
Grossman erzählt gern die Geschichte von den japanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gedrillt wurden, Töten mit Lust zu verbinden. Chinesische Gefangene wurden in einem Graben aufgereiht, kniend, die Hände gebunden, worauf ein Japaner nach dem anderen einen Chinesen mit dem Bajonett erstechen musste. Die Kameraden applaudierten dem Initiationsakt; ein Festmahl mit reichlich Reiswein wurde aufgetischt, und Prostituierte standen bereit, die Täter zu verwöhnen.
Teenager machen heute ähnliche Erfahrungen. Die Gewaltorgien in Fernsehen und Kino konsumieren sie mit Soft Drinks, Schleckereien und dem Parfüm der Freundin in der Nase. Rund 200 000 Gewaltakte und 40 000 Morde hat ein 18-Jähriger in den USA gesehen, vieles im frühen Kindesalter. Die Behauptung, dies diene der Triebabfuhr, lässt Grossman nicht gelten. Dagegen spricht nicht nur, dass Gewaltverbrechen von Jugendlichen ja nicht zurückgehen, sondern auch die eigene Erfahrung: Wer je ein Gewaltvideo spielte, fühlt selbst, wie dabei der Aggressionspegel steigt. Was die Schusswaffen betrifft, meint Grossman an die Adresse derer, die darin das Hauptproblem sehen, so seien sie in Amerika immer in Reichweite gewesen. Die Frage ist, warum Kinder jetzt danach greifen.
Von den Videospielen, die auf dem Markt sind, haben Eltern oft keine Ahnung. "Duke Nukem" führt einen Täter vom Typ Terminator durch Sexshops, wo er an Postern mit leicht bekleideten Frauen übt, bevor er nackte Prostituierte abschießt, die an Säulen gefesselt sind und "Töte mich!" säuseln. In "Postal" gewinnt Punkte, wer möglichst viele der Opfer umbringt, die um Gnade betteln. Die neuesten Versionen erlauben, die Bilder von Mitschülern oder Lehrern einzuscannen, um an ihnen Rache üben zu können.
Dave hat nichts gegen das Töten. Wenn es sein muss, muss es sein. Als gläubiger Christ verweist er auf die Bibel, in der nach seinem Verständnis nur stehe, dass man nicht morden soll. "Wir müssen die Aufmerksamkeit auf den Schmerz und das Leiden der Opfer lenken", rät er den Erziehern. "Und nicht, wie die Medien, auf den Täter, der nach Beachtung hungert." Er kämpft dafür, die Unterhaltungsindustrie zur Verantwortung zu ziehen für das, was sie angerichtet hat. Für die immer realitätsgetreueren Videogemetzel, in denen das Blut in Strömen fließt und das Fleisch in Fetzen fliegt. Sein zweites Buch, "Stop Teaching Our Kids to Kill", soll demnächst auf Deutsch erscheinen. Erziehung vermag zu wenig, wenn die Gesetze fehlen.
Er ist zuversichtlich. Im Kampf gegen die Tabakindustrie sind horrende Schadenersatzsummen gefordert und schließlich bezahlt worden. Es ist gelungen, die Autohersteller zu zwingen, mehr für die Sicherheit ihrer Fahrzeuge zu tun. Und es wird auch glücken, die Videohersteller und Medienkonzerne auf Produkte zu verpflichten, die für die Gesellschaft nicht schädlich sind. Man wartet nur noch auf die Anwälte, die ein Geschäft darin sehen. Ein Anfang ist in Paducah gemacht worden: Auf 130 Millionen Dollar beläuft sich die Schadenersatzforderung des Anwalts Jack Thompson, der die Eltern der drei getöteten Mädchen vertritt, an die Hersteller brutaler Unterhaltungsspiele.
Und es gibt bereits prominente Medienleute, die einen Zusammenhang nicht mehr leugnen. Medienmogul Ted Turner meinte, TV-Gewalt sei der wichtigste Faktor für die Gewalt in Amerika. Und Leslie Moonves, Präsident von CBS, nach dem Massaker von Columbine befragt, sagte: "Jeder, der glaubt, die Medien hätten damit nichts zu tun, ist ein Idiot."
Dave Grossman will nicht aufgeben, bis die Konsequenzen daraus gezogen sind. Als Professor für Psychologie an der Militärakademie West Point und Inhaber des Lehrstuhls für Militärwissenschaft an der State University von Arkansas hat Grossman aus seiner Leidenschaft auch ein Geschäft gemacht. 3000 Dollar zahlt die Washington Association of Sheriffs and Police Chiefs für den Lehrtag. Firmen berechnet er mehr, damit er für andere, die sich das nicht leisten können, gratis arbeiten kann. Er lehrt die Polizisten, mit dem Stress des Kämpfens - und des Tötens - innerlich fertig zu werden.
Der Polizist, der sich in der Mittagspause das Buch signieren lässt, ein eher intellektueller Typ, will etwas von Grossman wissen. Vor zwei Wochen, sagt er leise, hat er bei einem Schusswechsel einen getötet. Er dachte erst, der Schuss sei nicht aus seiner Waffe, sondern aus der des Kollegen gekommen. Diese Täuschung ist häufig - man will nicht wahrhaben, was man innerlich ablehnt.
"Wäre es nicht traurig", sagt Grossman, während er seinen Namen in das Exemplar kritzelt, "wenn wir Leute trainieren zu töten und sie hernach im Stich lassen?"
? WELT.de
Artikel erschienen am 4. Jul 2003
Columbine - Erfurt - und jetzt Coburg: Wer glaubt, er könne leicht jemanden umbringen, täuscht sich. Töten will gelernt sein: Dave Grossman sagt, warum manche kindlichen Amokschützen so verteufelt gut treffen
von Peter Haffner
Es mag Leute geben, die es als Mangel empfinden, dass Dave Grossman noch nie jemanden getötet hat. Diejenigen, die schon getötet haben, gehören nicht dazu. Dave, finden sie, weiß besser über die Sache Bescheid als sie selbst. Über den Stress, wenn man sich dem Gegner Auge in Auge gegenübersieht. Über die Gefühle des Triumphs und der Reue hinterher. Und über die Notwendigkeit, den Kampf weiterzuführen in dieser Welt voller Verrückter, Gewalttäter und Killer, die immer schlimmer wird.
Die gut 100 Polizisten und Sheriffs aus dem Staat Washington, die sich im Konferenzsaal einer Luxuslodge bei Vancouver versammelt haben, wissen, wovon Grossman redet. Erst vor kurzem hatten zwei Heckenschützen den halben Staat lahm gelegt. Millionen wagten nicht mehr, einzukaufen oder zu tanken, aus Furcht, Opfer der Sniper zu werden, die willkürlich Passanten abknallten und erst nach dreiwöchiger Jagd verhaftet werden konnten, mit zehn Toten und drei schwer Verletzten auf dem Gewissen. Um solche Typen außer Gefecht zu setzen, braucht es, was Grossman "the bulletproof mind" nennt - einen kugelsicheren Verstand. Wie man dazu kommt, lehrt er an diesem Sonntag die Gesetzeshüter. Siebeneinhalb Stunden lang, in freier Rede, ohne sich auch nur einmal zu versprechen. Und niemand schaut auf die Uhr.
Kein Wunder. Grossman hat einen Terminkalender wie ein Opernstar. 300 Tage im Jahr ist er unterwegs, unterrichtet Polizisten und Soldaten, Lehrer und Eltern, Schulpsychologen und Sanitätsdienste über das Thema, dem er sein Leben verschrieben hat. Breitbeinig, in schwarzen Cowboystiefeln, Jeans und Hemd steht er vorm Publikum; ein schlaksiger Mittvierziger, dem man den Elitesoldaten ansieht, der er war. Federnd der Schritt, die Handbewegungen, mit denen er seinen Vortrag begleitet, so präzise, als lade er eine Waffe.
Düster ist die Szenerie, die sein rhetorisches Feuerwerk erleuchtet. Seit den fünfziger Jahren haben sich Gewaltverbrechen in den USA verfünffacht. Europas Zahlen sind nicht viel besser. Die konstanten Mörderraten täuschen. Stünden wir auf dem Stand der Medizin der Siebziger, wären sie drei bis vier Mal so hoch - maßgebend sind die Fälle schwerer Körperverletzung. Die Zeiten, in denen ein Cop jahrelang auf Streife war, ohne je die Waffe ziehen zu müssen, sind vorbei. Viele riskieren täglich ihr Leben. "Ihr seid die Schäferhunde", sagt Grossman, "Nacht für Nacht hockt ihr da draußen, bewacht die Herde, pisst an den Baum. Und kämpft mit dem Wolf, wenn er kommt."
Er ist ein netter Kerl, aufmerksam im Gespräch, doch stets auf dem Sprung, als gehorche er einem imaginären Tagesbefehl. Seit er sich erinnern könne, sagt er, auf seinem Hamburger kauend, habe er Soldat werden wollen. Warum, weiß er eigentlich nicht. Als er es wurde, ging eben der Vietnamkrieg zu Ende, und er startete eine beeindruckende Karriere mit zahlreichen Auszeichnungen, die ihn von der arktischen Tundra über die Dschungel Zentralamerikas bis ins Nato-Hauptquartier nach Brüssel führte, ohne dass er je einen Feind zu Gesicht bekommen hätte.
Er wäre gerne in den Krieg gezogen. Er wollte wissen, wie das ist, der Krieg, so wie er als Junge hatte wissen wollen, was es mit dem Sex auf sich hat. Er durchstöberte die Militärbibliotheken und fand keine Antwort auf seine Fragen. Er fragte Vietnamveteranen, doch die schwiegen. So kam er zu seinem Thema. Er wollte den "Kinsey-Report" des Tötens schreiben, so detailliert über diese Tätigkeit forschen wie weiland Masters und Johnson über das Liebesleben ihrer Landsleute. 1995 war es so weit: "On Killing. The Psychological Costs of Learning to Kill in War and Society" erschien.
Vielleicht ist es übertrieben, wenn sein Autor sich als Begründer einer neuen Wissenschaft sieht, die er, analog zur Sexologie, "killology" nennt. Doch das Buch gilt als Standardwerk, es ist eine faszinierende Lektüre. Aller Schrecknisse zum Trotz auch eine tröstliche. Denn der Mensch, so das Fazit, ist nicht zum Töten von seinesgleichen geboren.
Von Natur aus sind Soldaten Kriegsdienstverweigerer. Wo es nur geht, drücken sie sich vor dem Feind. Noch im Zweiten Weltkrieg feuerten nur 15 bis 20 Prozent der Männer an der Front ihre Waffe auf den Gegner ab. Der große Rest tat alles, dies zu vermeiden - nicht aus Feigheit, sondern um nicht töten zu müssen. Viele gingen dafür Risiken ein, die beträchtlich höher waren, als wenn sie ihre Pflicht erfüllt hätten. Sie holten Munition, bargen Kameraden aus dem Feuer oder stellten sich tot, bloß um nicht schießen zu müssen. Dass trotzdem so viele auf den Schlachtfeldern blieben, dafür sorgte die Artillerie.
Wer einem weismachen will, Töten sei eine einfache Sache, predigt Grossman, verkennt die Realität. Was Rambo, James Bond oder Luke Skywalker scheinbar so leicht von der Hand geht, will nicht nur gelernt, es will gedrillt sein. Es gibt einen mächtigen inneren Widerstand gegen das Töten der eigenen Spezies. Niemand weiß das besser als die Militärs, deren Sorge es ist, wie er überwunden werden kann.
Im Vietnamkrieg hatten sie ihr Ziel erreicht. 95 Prozent der GIs feuerten ihre Waffe auf den Feind ab - das Ergebnis einer Konditionierung, die das Gesicht der Schlacht verändert hat. Wie sehr, konnte man im Krieg um die Falklands sehen. Von den Briten, gedrillt nach solchen Techniken, feuerten 90 Prozent, von den Argentiniern, noch nach alter Schule trainiert, nur 10 bis 15. Mit Konditionierung kann man jeden dazu bringen zu töten. Und das, meint Dave Grossman, hat fatale Nebenwirkungen. Derzeit setze die Unterhaltungsindustrie alles daran, Kinder so zu drillen wie das Militär die Rekruten.
Nicht zuletzt deshalb hat Dave nach 23 Jahren seine Militärlaufbahn im Rang eines Oberstleutnants aufgegeben und ist zum "Krieger für den Frieden" geworden: "Wir müssen endlich aufhören, unsere Kinder zu Killern abzurichten." Als Timothy McVeigh vor Gericht stand, suchten seine Anwälte Hilfe bei Grossman. McVeigh war ein Golfkriegsveteran, und die Verteidigung wollte nachweisen, dass ihn die Armee zur Kampfmaschine gemacht und dazu gebracht hatte, das Regierungsgebäude in Oklahoma in die Luft zu sprengen. Der Terrorakt kostete 168 Todesopfer und Hunderte von Verletzten. Grossman lehnte ab. Soldaten, sagte er, sind überlegene Mitglieder der Gesellschaft. Sie schießen, wenn es ihnen befohlen ist. Wenn nicht, schießen sie nicht. Noch heute hat Grossman Albträume von seinem Drill Sergeant, der ihnen in Fort Ord Disziplin einbläute. Der ihnen sagte, dass sie zu tun hätten, was immer er befehle, und dass sie, falls er sie zu scheißen heiße, nur fragen dürften: in welcher Farbe?
Als ein halbes Jahr später die Vertreter der Anklage zu ihm kamen, schrieb Grossman für sie ein Gutachten. Leute wie McVeigh sind Psychopathen, sagte er, nicht nur eine Bedrohung für die Gesellschaft, sondern auch für die Armee, da sie sich nicht unterordnen können und mit ihrer Unberechenbarkeit das Leben ihrer Kameraden aufs Spiel setzen.
Im Zweiten Weltkrieg haben die Militärs gelernt, wie wenig das herkömmliche Schießtraining taugt, aus einem friedliebenden Bürger einen kampfeslustigen Soldaten zu machen. Wer auf Scheiben zielt, übt sich in der Schießkunst, aber nicht im Töten. Silhouetten von Menschen und Pop-up-Ziele, die umfallen, wenn man sie trifft, machten den Anfang, um diese Hemmung abzubauen. Heute sind interaktive Kampfsimulatoren in Gebrauch, die wie Flugsimulatoren für Piloten ein Reiz-Reaktion-Schema drillen, bis es so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass es im Ernstfall automatisch abläuft.
Sowohl der MACS (Multipurpose Arcade Combat Simulator) der US-Armee wie auch der FATS-Trainer (Fire Arms Training Simulator) der Polizei haben ihre Wurzeln in der Unterhaltungsindustrie. Der Polizeitrainer ist dem Videospiel "Time Crisis" nachgebaut, der Militärtrainer eine Modifikation von "Duck Hunt" von Super Nintendo - nur sind die Enten durch militärische Ziele ersetzt und die Jagdflinte durch eine MP. Sie lässt selbst den Rückstoß spüren. "Es sind ausgezeichnete Übungsgeräte für Soldaten und Polizisten", sagt Grossman. "Das Problem ist, dass wir Kinder damit spielen lassen, denen kein Drill Sergeant sagt, was sie tun und was sie nicht tun dürfen."
In seiner Heimatstadt Jonesboro (Arkansas) eröffneten am 24. März 1998 zwei Jungen, 11 und 13, das Feuer auf ihre Mitschüler. Vier Mädchen und ein Lehrer waren tot, zehn Schüler schwer verletzt. Grossman sieht die Lehrerin noch vor sich, Tränen in den Augen, die ihm sagte: Sie habe ihrer Klasse erklärt, was die Schüsse nebenan bedeuteten. Und da hätten die Schüler gelacht. Sie konnte nicht fassen, was nach späteren Schulmassakern weithin entsetzte: dass viele Kinder das "cool" fanden und in den Tätern nachahmenswerte Helden sahen.
Noch etwas fiel auf. Die beiden Täter, von denen nur der eine ein Mal eine Schusswaffe in der Hand gehabt hatte, feuerten aus fast 100 Meter Entfernung und trafen mit 27 Schuss 15 Leute. Militärexperten staunten über die Schießfertigkeit der Kinder - und darüber, dass sie ihre Opfer nach allen Regeln der Kunst in einer definierten "Killzone" ins Visier genommen hatten.
Der 14-jährige Michael Carneal, der in Paducah (Kentucky) das Gewehr eines Nachbarn stahl, in die Schule brachte und auf Schüler schoss, beim Morgengebet, hatte vorher noch nie eine Feuerwaffe betätigt. Er schoss acht Mal, traf acht Mal, davon fünf Mal in den Kopf und drei Mal in die Brust. Das FBI sagte, ein durchschnittlicher Beamter treffe unter gleichen Bedingungen einmal bei fünf Schuss. Die Erklärung für Michaels Rekord war: Er hatte, wie die Kinder von Jonesboro, zuvor schon Tausende erschossen. Hatte Hunderte Stunden in Videoarkaden verbracht, viel mehr Zeit fürs Training aufgewendet, als ein Polizist es je könnte. Michael Carneal bewegte sich nicht von der Stelle, während er in einem genau definierten Bereich feuerte: dem Rechteck des Bildschirms, den er vor dem geistigen Auge hatte. Und wie im Videospiel schoss er pro Ziel nur ein Mal - möglichst auf den Kopf, weil das Bonuspunkte gibt.
Dylan Klebold und Eric Harris, die das Schulmassaker an der Columbine High School in Littleton (Colorado) veranstalteten, das 15 Tote forderte, setzten einen neuen Rekord. Harris hatte seine Version von "Doom" so weit umprogrammiert, dass es der Gegend glich, in der er lebte, inklusive der Häuser von Nachbarn, die er hasste. Während die beiden von Klassenzimmer zu Klassenzimmer gingen und umlegten, wer sich in ihrer Schusslinie befand, lachten sie. Lange genug hatten die "Trenchcoat-Mafiosi", 17 und 18 Jahre alt, herumposaunt, dass sie endlich einmal richtig zur Sache gehen möchten.
Grossman erzählt gern die Geschichte von den japanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gedrillt wurden, Töten mit Lust zu verbinden. Chinesische Gefangene wurden in einem Graben aufgereiht, kniend, die Hände gebunden, worauf ein Japaner nach dem anderen einen Chinesen mit dem Bajonett erstechen musste. Die Kameraden applaudierten dem Initiationsakt; ein Festmahl mit reichlich Reiswein wurde aufgetischt, und Prostituierte standen bereit, die Täter zu verwöhnen.
Teenager machen heute ähnliche Erfahrungen. Die Gewaltorgien in Fernsehen und Kino konsumieren sie mit Soft Drinks, Schleckereien und dem Parfüm der Freundin in der Nase. Rund 200 000 Gewaltakte und 40 000 Morde hat ein 18-Jähriger in den USA gesehen, vieles im frühen Kindesalter. Die Behauptung, dies diene der Triebabfuhr, lässt Grossman nicht gelten. Dagegen spricht nicht nur, dass Gewaltverbrechen von Jugendlichen ja nicht zurückgehen, sondern auch die eigene Erfahrung: Wer je ein Gewaltvideo spielte, fühlt selbst, wie dabei der Aggressionspegel steigt. Was die Schusswaffen betrifft, meint Grossman an die Adresse derer, die darin das Hauptproblem sehen, so seien sie in Amerika immer in Reichweite gewesen. Die Frage ist, warum Kinder jetzt danach greifen.
Von den Videospielen, die auf dem Markt sind, haben Eltern oft keine Ahnung. "Duke Nukem" führt einen Täter vom Typ Terminator durch Sexshops, wo er an Postern mit leicht bekleideten Frauen übt, bevor er nackte Prostituierte abschießt, die an Säulen gefesselt sind und "Töte mich!" säuseln. In "Postal" gewinnt Punkte, wer möglichst viele der Opfer umbringt, die um Gnade betteln. Die neuesten Versionen erlauben, die Bilder von Mitschülern oder Lehrern einzuscannen, um an ihnen Rache üben zu können.
Dave hat nichts gegen das Töten. Wenn es sein muss, muss es sein. Als gläubiger Christ verweist er auf die Bibel, in der nach seinem Verständnis nur stehe, dass man nicht morden soll. "Wir müssen die Aufmerksamkeit auf den Schmerz und das Leiden der Opfer lenken", rät er den Erziehern. "Und nicht, wie die Medien, auf den Täter, der nach Beachtung hungert." Er kämpft dafür, die Unterhaltungsindustrie zur Verantwortung zu ziehen für das, was sie angerichtet hat. Für die immer realitätsgetreueren Videogemetzel, in denen das Blut in Strömen fließt und das Fleisch in Fetzen fliegt. Sein zweites Buch, "Stop Teaching Our Kids to Kill", soll demnächst auf Deutsch erscheinen. Erziehung vermag zu wenig, wenn die Gesetze fehlen.
Er ist zuversichtlich. Im Kampf gegen die Tabakindustrie sind horrende Schadenersatzsummen gefordert und schließlich bezahlt worden. Es ist gelungen, die Autohersteller zu zwingen, mehr für die Sicherheit ihrer Fahrzeuge zu tun. Und es wird auch glücken, die Videohersteller und Medienkonzerne auf Produkte zu verpflichten, die für die Gesellschaft nicht schädlich sind. Man wartet nur noch auf die Anwälte, die ein Geschäft darin sehen. Ein Anfang ist in Paducah gemacht worden: Auf 130 Millionen Dollar beläuft sich die Schadenersatzforderung des Anwalts Jack Thompson, der die Eltern der drei getöteten Mädchen vertritt, an die Hersteller brutaler Unterhaltungsspiele.
Und es gibt bereits prominente Medienleute, die einen Zusammenhang nicht mehr leugnen. Medienmogul Ted Turner meinte, TV-Gewalt sei der wichtigste Faktor für die Gewalt in Amerika. Und Leslie Moonves, Präsident von CBS, nach dem Massaker von Columbine befragt, sagte: "Jeder, der glaubt, die Medien hätten damit nichts zu tun, ist ein Idiot."
Dave Grossman will nicht aufgeben, bis die Konsequenzen daraus gezogen sind. Als Professor für Psychologie an der Militärakademie West Point und Inhaber des Lehrstuhls für Militärwissenschaft an der State University von Arkansas hat Grossman aus seiner Leidenschaft auch ein Geschäft gemacht. 3000 Dollar zahlt die Washington Association of Sheriffs and Police Chiefs für den Lehrtag. Firmen berechnet er mehr, damit er für andere, die sich das nicht leisten können, gratis arbeiten kann. Er lehrt die Polizisten, mit dem Stress des Kämpfens - und des Tötens - innerlich fertig zu werden.
Der Polizist, der sich in der Mittagspause das Buch signieren lässt, ein eher intellektueller Typ, will etwas von Grossman wissen. Vor zwei Wochen, sagt er leise, hat er bei einem Schusswechsel einen getötet. Er dachte erst, der Schuss sei nicht aus seiner Waffe, sondern aus der des Kollegen gekommen. Diese Täuschung ist häufig - man will nicht wahrhaben, was man innerlich ablehnt.
"Wäre es nicht traurig", sagt Grossman, während er seinen Namen in das Exemplar kritzelt, "wenn wir Leute trainieren zu töten und sie hernach im Stich lassen?"
? WELT.de
Artikel erschienen am 4. Jul 2003